Kiew 1991

Kiew 1991

Erinnerung

Ja, die Ukraine, dieses reiche arme Land - Ende 1991, im Dezember, in der Zeit der Unabhängigkeitserklärung, war ich zum ersten und für gut 24 Jahre einzigen Mal dort, einige Tage lang, beruflich, für Sat.1. Ich habe eine kurze Reportage über durch die Tschernobyl-Katastrophe geschädigte Kinder machen dürfen/müssen, in einem Kinderheim in der Nähe der Hauptstadt Kiew. Damals schon hatte ich diesen Eindruck von freundlichen Menschen überall, in diesem traditionsreichen Land, das sich gerade im Umbruch befand. Der Soundtrack der Tage war auch hier der Scorpions-Hit Wind of Change - insbesondere dröhnte die „Hymne der Wende“ rund um das Nationalstadion, wo an gefühlt tausenden Ständen eine Art Flohmarkt stattfand. In Erinnerung bleibt vor allem die Unmenge an Musik-Cassetten mit

(vermutlich Raub-)Kopien westlicher Hits.

Olympisches Stadion (bis 1996: Nationalstadion) in Kiew, 2008

Foto:Cropped version of НСК "Олимпийский" by Toronto guy , originally from Panoramio

licenced with CC BY 3.0 (http://creativecommons.org/licenses/by/3.0)


Untergebracht waren wir im 1984 erbauten, futuristisch anmutenden Hotel Saljut


Foto: Garik 11/Wikipedia/PD

01-05-1974 - panoramio - Andris Malygin (5)

ЦУМ - das Zentralkaufhaus in Kiew lockte zum Einkauf


Foto: Andris Malygin [CC BY 3.0 (http://creativecommons.org/licenses/by/3.0)],

via Wikimedia Commons

Noch hatte der junge Staat - der erst einmal weiterhin URSR hieß, die ukrainische Abkürzung für Українська Радянська Соціалістична Республіка, Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik also - keine wirkliche eigene Währung; es wurden Kupons (Kupon-Karbowanez, also Kupon-Rubel) ausgegeben, zu der Zeit noch als farbige, bedruckte Blätter, etwa im DIN-A4-Format, aus denen man sich kleine Rechtecke ausschneiden oder -reißen konnte, auf die der Nominalwert aufgedruckt war. Die Kupons musste man beim Einkauf gemeinsam mit dem noch immer umlaufenden sowjetischen Rubel abgeben; sie waren quasi Berechtigungsscheine für den Erwerb bestimmter Artikel: Картка споживача heißt wohl Verbraucher-Karte; diese musste von der ausgebenden Behörde oder Gemeinde abgestempelt werden. Erst im Januar 1992 wurden Geldscheine dieser neuen Währung eingeführt. Der Kupon-Karbowanez war allerdings einer Hyper-Inflation unterworfen; 1996 wurde er durch die Griwna (Гри́вня) ersetzt, die noch heute die gültige Währung der Ukraine ist.

Ich weiß allerdings noch, dass ich meinen Übersetzer bezahlt habe - der erhielt für dortige Verhältnisse ein recht ordentliches Honorar. Ich wollte ihm ein Trinkgeld geben; er aber wollte keins annehmen, schon gar keine Rubel. Aber einen 10-DM-Schein nahm er dann doch gerne. Den wolle er sparen, denn er wolle bald nach Deutschland um dort zu studieren. Ich konnte ihm kaum begreiflich machen, dass er bei uns mit zehn Mark nicht wirklich weit kommen werde. Für ihn schien es ein Vermögen zu sein, das er nicht ohne Gegenleistung annehmen wollte - er brachte mir vor meiner Abreise eine Flasche Krimsekt und ein Büchlein, einen Reiseführer über Kiew in deutscher Sprache.


Wegen zehn Mark.


Beschämend.

Aber schon beim damaligen Wechselkurs waren die Preise für uns (trotz einjähriger Vereinigung noch immer West-)Deutsche unglaublich. Ich habe für (gefühlt) wenige Pfennige im ЦУМ (ZUM - das Zentralkaufhaus in Kiew) ein paar Schallplatten der Beatles auf Melodija erstanden und einige wunderschöne handbemalte kleine Holzkistchen (Schmuckkästchen die ich größtenteils verschenkte). Doch ich konnte das umgetauschte Geld gar nicht ausgeben (da ja auch die Spesen direkt vom Sender getragen wurden).

Den größten Teil meiner letzten Rubel und Kupons - es war noch ein ansehnliches Bündel - habe ich verschenkt.

Eine Zeitungskollegin, die eine ähnlich gelagerte Reportage machte, wollte noch eine spezielle Aufnahme auf einem Friedhof der Stadt machen. Während ich auf sie und den Fotografen wartete, kam vor dem Friedhof ein altes Mütterchen an mir vorbei, wie man sie sich damals in der Sowjetunion vorstellte, ordentlich gekleidet und sauber, aber einen ärmlichen Eindruck erweckend. Offenbar wollte die Frau ein Grab besuchen - ich weiß nicht mehr, ob sie etwas in der Hand hatte, das mich das glauben ließ, Blumen etwa oder Gartenwerkzeug.


Jedenfalls bin ich auf sie zugegangen und habe ihr das Geld in die Hand gedrückt, das für mich in Deutschland praktisch wertlos gewesen wären. Ich erinnere mich an den ungläubigen Blick des Erstaunens. Ich sagte ihr auf deutsch und englisch - sicher hat sie die Worte nicht verstanden, wohl aber vermutlich den Sinn - sie solle es nehmen, es sei alles für sie und möge sie gesund bleiben und damit glücklich werden. Dann wandte ich mich aber schnell wieder ab, ehe es für einen von uns noch peinlicher werden könnte. Ich habe gar nicht drüber nachgedacht, ob es für sie so beschämend sein könnte, wie es für mich war, dem jungen Mann die zehn Mark zu geben. Vermutlich war es für die alte Frau sehr, sehr viel Geld. Ich denke noch heute oft daran und hoffe, es hat ihr und ihrer Familie geholfen über die Zeit des Übergangs.

Огорожа католицької частини кладовища


Tor des katholischen Teils des

Baikowe-Friedhofs in Kiew


Foto: By Kiyanka (Own work) [CC BY-SA 3.0 (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0)],

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